I. Handlesen und Chiromantie - Geschichte
II. Handlinien im alten englischen Eadwine Psalter
III. Julius Spier, Etty Hillesum und Dr. Charlotte Wolff
IV. Rudolf Steiner und die Chiromantie
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I. Handlesen und Chiromantie - Geschichte
Mannigfache Wege gehen die Menschen. Wer sie verfolgt und vergleicht,
wird wundersame Figuren entstehen sehn;
Figuren, die zu jener großen Chiffreschrift zu gehören scheinen,
die man überall, auf Flügeln, Eierschalen, in Wolken, im Schnee,
in Kristallen und in Steinbildungen, auf gefrierendem Wasser,
im Innern und Äußern der Gebirge, der Pflanzen, der Tiere, der Menschen,
in den Lichtern des Himmels, auf berührten und gestrichenen Scheiben
von Pech und Glas, in den Feilspänen um den Magneten her, und in
sonderbaren Konjunkturen des Zufalls, erblickt. / Novalis: "Die Lehrlinge zu Sais"
Wer vom Handlesen hört, denkt meist an die Frauen der Fahrenden, die es auf der Straße anbieten und manchmal mit spektakulären Aussagen aufwarten. Die ältesten europäischen Wurzeln der Chiromantie finden wir jedoch bereits im antiken Griechenland. Dies belegt ein griechisches Manuskript, das der bekannte Astrologe Regiomontanus bereits im 15. Jahrhundert in Rom abgeschrieben hat. Es zeigt, dass die Handdeutung schon seit der Antike mit den Planeten(-Göttern) und mit Astrologie verbunden war. Die Verbindung reicht sogar bis in die altbabylonische Zeit zurück, davon sprechen Keilschrifttexte, die über verschiedene Krankheiten, deren Heilung und über Omina Auskunft geben.
Im frühen Mittelalter wurde das Handlesen über die zahlreichen Abschriften der Mönche weiterverbreitet. Sie verwandten es als Charakterkunde und für medizinische Diagnosen. Die Ärzte der Renaissance verbanden die Chiromantie ebenfalls meist mit Astrologie, denn sie gehörte damals zu ihrer Grundausbildung. Dies finden wir erwähnt in den Schriften von Paracelsus und Agrippa von Nettesheim. Der Bernburger Arzt Johannes Rothmann schrieb unter Förderung der Kaufmannsfamilie Fugger sogar ein großes Grundlagenwerk darüber. Die Chiromantie wurde damals sogar an der Universität in Wittenberg gelehrt.
Zu Beginn der Neuzeit wurde das Handlesen volkstümlich und kam geradezu in Mode. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass unter den ersten Büchern, die in Europa gedruckt wurden, neben der Gutenberg-Bibel 1475 "Die Kunst Chiromantia" aufgelegt wurde. Das noch im Blockdruck angefertigte Buch verbreitete sich rasch und erfreute sich großer Nachfrage, obwohl es kaum les- und verstehbar ist.
In der neueren Zeit wurde die Chirologie, wie sie heute oft genannt wird und die auf Vorhersagen meist verzichtet, von wenigen renommierten Forschern ernst genommen. Zu ihnen gehörte Dr. Charlotte Wolff und C. G. Jung. Letzterer war mit dem Ende der 1930er Jahre nach Amsterdam emigrierten Frankfurter Psycho-Chirologen Julius Spier bekannt. Er hatte mehrfach Gelegenheit, dessen Beratungen persönlich zu begleiten und musste schließlich gestehen, dass er von seinen Resultaten nachhaltig beeindruckt war.
II. Handlinien im alten englischen Eadwine Psalter
Noch heute sind viele Menschen davon überzeugt, Handlesen sei mit den Fahrenden, den Sinti und Roma, zu uns gekommen. Umso mehr mag es deshalb erstaunen, dass bereits um 1160 n. Chr. ein Mönch in Christchurch, Canterbury den sogenannten Eadwine Psalter verfasste, der neben Gebeten und Glaubenssätzen als erstes Buch im nördlichen Europa ein Kapitel über Handlesen enthielt.
Das lateinische Schriftstück erwähnt den Begriff Chiromantia oder Chiromanticus und zeigt, dass die römisch-chiromantische Tradition bereits Mitte des 12. Jahrhunderts unsere Gegend und die britischen Inseln erreicht hat. Die später erweiterte Version der Eadwine Chiromancy enthält vier Illustrationen mit chiromantischen Merkmalen. Zu ihnen gehört die nebenstehende Zeichnung. Wie die Sammlung außerdem zeigt, sah der Autor im Handlesen nichts Unchristliches.
III. *Julius Spier und seine Psycho-Chirologie
Julius Spier war Psycho-Chirologe und arbeitete mit C. G. Jung zusammen. Sein 1944 erstmalig auf Englisch erschienenes Buch "The Hands of Children" gilt wegen der Einbeziehung der psychotherapeutischen Denkweise noch heute als vielbeachtetes Werk. Spiers Handlesemethode ist sehr individuell und für Anfänger wenig geeignet. Sein großer Erfolg in den 1930-40er Jahren beruhte wahrscheinlich mehr auf seiner sensiblen, "übersinnlichen" Wahrnehmung als auf der reinen Handlese-Technik. Im deutschsprachigen Raum ist er heute nahezu unbekannt.
J. Spier wurde am 25. April 1887 in Frankfurt / M. geboren. Sein Vater war ein assimilierter Jude und stammte aus einer dort alteingesessenen Familie.
Bereits mit siebzehn Jahren besuchte er einen Vortrag über Chirologie, den ein von ihm nicht näher bezeichneter Arzt hielt. Er war davon so beeindruckt, dass er sich fortan intensiv mit dem Studium der Hände beschäftigte.
Nachdem er zunehmend sein Talent fürs Handlesen entdeckt hatte, kündigte er 1927 seine Stelle in der Metallhandelsgesellschaft Beer-Sontheimer & Co, in der er zuletzt als Personalchef tätig war.
Zwischen 1926 - 28 führte er bei C. G. Jung in Zürich eine Analyse durch. Jung ermunterte ihn, professioneller Psycho-Chirologe zu werden. 1929 siedelte Spier mit seiner Familie nach Berlin um und eröffnete eine psycho-chirologische Praxis, die bald sehr erfolgreich war. Insbesondere in der Damenwelt verbreitete sich rasch sein Ruf als ungewöhnliche, "magische" Persönlichkeit.
Neben seiner Berufstätigkeit hielt J. Spier in vielen Städten Kurse ab, so zum Beispiel in Berlin und Zürich. An ihnen nahmen vor allem Ärzte, Psychologen und psychologisch Interessierte teil. Auf diese Wiese und durch sein 1944 in London erstmalig in englischer Sprache erschienene Buch, beeinflusst er die Entwicklung der modernen, psychologisch orientierten Chirologen. Dazu gehörten etwa die Frau des berühmten Psychologen Neumann und später die Chirologen in Israel.
1935 ließ sich Spier von seiner Frau scheiden, weil er "ein homme a femme war und von den Frauen angeschwärmt wurde", wie sein Sohn in seiner Biographie berichtet. Kurz nach der Reichspogromnacht 1938 emigrierte Spier nach Amsterdam, wo seine Schwester mit einem jüdischen Bankier verheiratet war.
Seine psycho-chirologische Beratungspraxis im niederländischen Exil florierte ebenfalls nach kurzer Zeit. Im September 1942 verstarb Julius Spier an Lungenkrebs, am Tag bevor die Gestapo vor seiner Türe stand, um ihn ins Durchgangslager Westerbork zu deportieren. Den Bescheid dazu hatte er bereits in der Tasche.
Etty Hillesum lernte Julius Spier um 1940 in Amsterdam anlässlich einer Handlesesitzung kennen, die jener zu Studienzwecken vor einem interessierten Kreis abhielt. Freunde hatten sie dazu als "Modell" mitgebracht. Wie Etty in ihrem Tagebuch berichtet, war sie sofort von ihm beeindruckt und begann bei ihm eine psycho-chirologische Therapie. J. Spier gab dabei den Anstoß zum regelmäßigen Schreiben ihres berühmten Tagebuches.
In der Folge entwickelte sich zwischen beiden eine enge Freundschaft, die auf Grund von Spiers Verlobung mit Herta Levi eine gewisse Distanz bewahrte. Spiers Verlobte war bereits nach London emigriert und rettete auf diese Weise Spiers Schriften vor der Vernichtung. In dieser Zeit arbeitete Etty bei Spier als Sekretärin.
Kurz nach seinem Tod wurde sie unter dramatischen Umständen nach Auschwitz deportiert und dort von den Nazis ermordet. In Ihrem Tagebuch beschreibt sie die Beziehung zu Spier ausführlich. *
Dr. Charlotte Wolff, die international renommierte Ärztin, Psychologin und Chirologin, erwähnt in ihrer Biographie, wie sie in Berlin einen Chirologie-Kurs von Julius Spier besuchte, der speziell für Ärzte gedacht war. Später schrieb sie darüber: "Ich bin diesem Mann, der mich auf den Weg zu einer Reise um die menschliche Hand schickte, zu ewigem Dank verpflichtet."
* Vielen Dank an Alexandra Nagel für Ihre Hinweise zu diesem Abschnitt. - Für weitere Studien verweise ich auf Alexandra Nagel von der Universität Leiden, die umfangreiche Forschungsarbeiten in Bezug auf das Leben und Wirken von Julius Spier und Etty Hillesum durchgeführt hat und noch immer durchführt. Siehe auch: Alexandra Nagel, Etty Hillesum's Hand Analysis: The Prologue to Her Diaries. Amsterdam, University Press, 2019.
Rudolf Steiner und die Chiromantie
"Wie üblich wurde Rudolf Steiners Aufenthalt in Prag (1924) mit dem Besuch der Antiquariate und gemeinsamen Spaziergängen verbunden. In einer romantischen Gasse auf der Prager Burg (es handelte sich wahrscheinlich um die berühmte Goldene Gasse) konnte Rudolf Steiner aus seiner geistigen Schau verschiedene historische Begebenheiten erzählen. Bei einem Schild mit der Inschrift "Sibylle" (Madame de Thèbes: Matylda Průšová) forderte er mit einem Lächeln Guenther Wachsmuth auf, sich seine Zukunft aus der Hand vorhersagen zu lassen. Es handelte sich nur um ein Experiment, doch die Wahrsagerin war glücklicherweise nicht zu Hause. Guenther Wachsmuth bemerkte dazu, dass Prag auf besondere Weise geeignet ist, den Gegensatz zwischen der alten und neuen Geistigkeit zu studieren." (aus Ernst Lehrs: Mitteilungen aus der Anthroposophischen Arbeit in Deutschland 18, 1964, Heft 4, S. 233 ff)
"Etwas Ähnliches wie es mit den Haaren und der Iris steht, ist es auch bei dem, was die Chiromantie ins Auge fasst, aber auch da müssen Sie Inspiration haben, nicht die oberflächlichen Regeln, die gewöhnlich gegeben werden. Es ist da wiederum eine spezielle, eine ganz spezielle Anlage nötig, die diese oder jene Menschen haben können, um die Linien in der Hand erforschen zu können; sie hängen schon innig zusammen mit dem, wie die menschliche Entwicklung ist. Sie brauchen nur einmal an Ihren eigenen Händen zu vergleichen, wie die Linien in der linken und rechten Hand ausschauen. Nicht wahr, im groben Leben kommt es so zum Vorschein, dass der Mensch nun eben mit der rechten Hand schreibt, mit der linken Hand nicht.
Es ist ein Unterschied vorhanden. Mit Bezug auf die Linien der Hand ist das so, dass man in der linken Hand das Karma des Menschen sieht, wenn man dazu inspiriert ist. In der rechten Hand sieht man die persönliche Tüchtigkeit, die sich der Mensch in seinem Leben angeeignet hat. Sein Schicksal hat dieses Erdenleben geschaffen und seine Tüchtigkeit führt ihn in die Zukunft hinein. Alle diese Dinge sind nicht ohne Untergründe, aber es ist außerordentlich gefährlich, diese Dinge in der Öffentlichkeit zu vertreten, weil wir da Gebiete betreten, wo Ernst und Scharlatanerie im höchsten Maß aneinandergrenzen." (R. Steiner, GA 316, aus dem Vortrag vom 8. Januar 1924)